Adam Ries (1492 oder 1493 - 1559) schreibt in seinem zweiten Rechenbuch Rechenung auff der linihen und federn, Erfurt 1522, G7v ff.:
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Regula falsi oder posicion. |
Etwas klarer in der späten Ausgabe, Leipzig 1550, 186r ff.:
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Regula falsi. Ich will aber hier die Beispiele, die ich zuvor in meinem Büchlein [in der o.g. alten Ausgabe] gebracht habe, wiedergeben und im Hinblick darauf erklären, daß jeder die Coß desto leichter verstehen mag, die ich, so Gott will, mit der Zeit auch noch zur Erhellung an den Tag bringen [herausgeben] will. |
Bei der in der Anmerkung zu den dann folgenden zahlreichen Beispielen in der späteren Ausgabe erwähnten Coss
bzw. Coß, zu deren Drucklegung und
Veröffentlichung es nicht mehr gekommen ist, handelt es sich um ein Lehrbuch der Algebra. Mit Coß
, von ital. cosa: Ding, Sache und
lat. causa: Gegenstand, Fall, Grund, Ursache bezeichnete man im Mittelalter eine gesuchte unbekannte (numerische) Größe.
In Ries' Rechenbüchern werden keine Gleichungen, auch der heute einfachsten Art (wie hier!), also lineare, mit Umformungen, d.h. algebraisch gelöst, sondern
algorithmisch mit solchen reichlich komplizierten Vorschriften für Rechenabläufe wie eben der Regula falsi, einer
im übrigens aber exakten Lösungsmethode für Gleichungen
oder besser: Berechnungen, in denen die Unbekannte lediglich linear auftritt.
Da negative Zahlen zu dieser Zeit nicht bekannt sind (oder man mit ihnen nicht umging), werden Fallunterscheidungen erforderlich wie eben hier,
daß man einmal Differenzen bildet, ein anderes mal aber die Summe.
Wir können heute allgemein von Differenz sprechen, denn wir können 2-(-3) berechnen und müssen nicht den Umweg über 2+|-
3| nehmen.
Ries hatte das über 500 Seiten umfassende Manuskript seiner Coß übrigens schon 1524 fertiggestellt. Es durfte von Schülern und Interessierten eingesehen und benutzt werden. Vom sehr teuren Druck sah Ries wohl auch deswegen ab, weil entsprechende Werke anderer Autoren erschienen waren, so etwa die Coß von Christoph Rudolff (1500 - vor 1543): Straßburg 1515, neu herausgegeben 1553 (→Digitalisat, UB Bielefeld) von Michael Stifel (um 1487 - 1567).
Bevor hier die (in Auswahl originalen) Beispiele mit zeitgenössischen Rechenaufgaben aus dem Rechenbuch studiert und eigene Beispiele durchexaminiert werden können, will ich versuchen, das Verfahren für heutige Leser verständlicher zu beschreiben.
Es geht bei der Regula falsi darum, daß in einer gegebenen Rechnung zwar das Ergbnis bekannt ist, aber nicht die Ausgangszahl.
Um die herauszufinden, rechnet man die Rechnung mit zwei willkürlich angenommenen Zahlen durch und betrachtet den Unterschied zum richtigen
Ergebnis. Am Beispiel (das zweite von Ries): Ein Sohn kennt sein Alter nicht und fragt den Vater danach, welcher antwortet: nun, wärst du
nochmal so alt, nochmal die Hälfte und noch ein Viertel dazu und dann noch ein Jahr älter, so wärst du 100.
(Heißt also in heutiger Schreibweise
Wir denken uns als Sohn: Naja, vielleicht bin ich 40.
Das wären dann nach Vaters Rechnung plus
. Dann, denn Lügen macht Spaß, vor allem beim Rechnen! Wwenn es sogar erlaubt und gewollt wird, ja dann kann
man sich einfach noch älter als 40 denken (was ja eigentlich ein wenig blöd ist, wenn 40 schon zu alt ist; aber Ries nimmt genau diese
zweite, sicher noch falschere
Zahl, also folgen wir ihm und denken als Sohn: Vielleicht bin ich 48? Einsetzen und ausrechen:
plus
. Nun ziehen wir denen einen Fehler (11) vom anderen (33) ab, macht 22.
Das merken wir uns. Später wird nämlich dadurch geteilt.
Nun wird über Kreuz multipliziert: beide falsche angenommenen Zahlen mit dem jeweils anderen Fehlbetrag, also 40 mal 33, ergibt 1320,
und 48 mal 11, ergibt 528. Wir ziehen das kleinere Produkt vom größeren ab und bekommen die Differenz 1320-528 = 792.
Diese teilen wir durch die oben berechnete und hoffentlich gemerkte 22 und erhalten unser wirkliches Alter: 36.
Hätten wir als zweite Zahl eine zu kleine angenommen, z.B. 28, dann wäre wir mit 28+28+14+7+1=78 um 22 im minus
, müßten dann statt
voneinander abzuziehen die beiden Fehlbeträge addieren, also 11+22=33 (merken!). Über Kreuz multipliziert, ergibt 40·22=880 und
28·11=308. Auch das wird addiert statt subtrahiert: 880+308=1188 und durch die gemerkte 33 geteilt. Wieder ergibt sich 36.
Das ist fast mathematische Alchemie, nicht wahr? Unten zeige ich, warum das Verfahren für lineare Zusammenhänge funktioniert und wie
es dann später auch zur (iterativen) Approximation von Lösungen nichtlinearer Gleichungen verwendet wurde.
Zunächst aber können die Beispiele aus dem Rechenbuch hier interaktiv studiert werden.
Ich folge bei der interaktiven Darstellung des Rechenschemas der früheren Ausgabe
mit den verbalen Bezeichnung plus und minus. In der späteren die Symbole | (für +) und (für -) und ohne Kreuz.
Außerdem legt Ries dort, und zwar erst in den Beispielen nahe, die beiden Fehlbeträge zu kürzen (oder durch Erweitern ganzzahlig zu machen),
was natürlich handlichere Zahlen zum Weiterrechnen liefert. Auch wird dann in einem zweiten Schritt, sofern möglich, der Teiler mit den Ausgangszahlen
gekürzt, was ich in der interaktiven Darstellung allerdings weglasse. Man mag das anhand der Faksimiles studieren
Das Vereinfachen durch Kürzen/Erweitern klappt allerdings nur bei geeigneter kluger
Wahl der Ausgangszahlen,
die Ries in der späten Aufgabe dafür oft entsprechend modifiziert.
Man kann diese Kürz-Option hier dazu- oder abwählen.
Die Kreuze sind in der Vorlage des leider
nur schwarweißen Faksimiledrucks der Ausgabe 1522 (siehe Quellenangabe oben) wohl handschriftlich nachgetragen; ich habe das
hier zur Verdeutlichung übernommen.
Außerdem verwende ich gegebenenfalls die Riesesche Bruchschreibweise mit den gemischten Brüchen, also z.B. weder 3,75, noch 15/4, sondern 3¾.
Für die originalen Beispiele wird unterhalb jeweils das Faksimile angezeigt.