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Die regula falsi

Adam Ries (1492 oder 1493 - 1559) schreibt in seinem zweiten Rechenbuch Rechenung auff der linihen und federn, Erfurt 1522, G7v ff.:

Regula falsi: ader posicion.

Wirt gesatzt von zweyen falschen zaln/welche 8 [d?] auffgab nach/mit pleyß examinirt solln werden/in massen das fragstugk begern ist/sagenn sie der warheyt zuvil/so bezeychenn sie mit dem zeichen ☩ plus/wu aber zu wenigk/so beschreib sie mit dem zeychen ÷ minus genant Als dan nym ein lugen von der andern/was do bleybet behalt fur deynen teyler/multiplicir darnach im creutz/ein falsche zal mit der andern luegen:nym eynes vom andern/vnnd das do pleybet teyl ab mit vorgemachtem teyler/so kömet berichtung der frag/leugt aber ein falsche Zal zuvil und die ander zu wenigk/so addir zusamē die zwu lugen/was do kömet ist dein teyler.Darnach multiplicir im creutz Addir zusamen und teyl ab//so geschicht aufflösung der frag Als volgende exempel grüntlich erleutern werden.

Quelle: S. Deschauer (Hsg.): Das 2. Rechenbuch von Adam Ries. (=Heft 5 der Studien zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften (Algorismus)), München 1991: Faksimile der Ausgabe Erfurt 1522 mit Erläuterungen.
 

Regula falsi oder posicion.
 
Man geht aus von zwei willkürlich angenommenen, d.h. im Grunde falschen Zahlen, die einer gegebenen Aufgabe/Rechenvorschrift nach überprüft und an einem vorgegebenen Ergebnis gemessen werden. Ergeben sie in der Rechnung zu viel, so bezeichne den Überschuß mit dem Zeichen ☩ (plus), ergeben sie zu wenig, mit dem Zeichen
÷ (minus). Alsdann nimm der Unterschied der beiden (d.h. die Differenz der beiden Überschüsse) für deinen (später gebrauchten) Teiler. Multiplizere danach über Kreuz (gedachte Zahl mal den jeweils anderen Überschuß), ziehe eines vom andern ab und teile durch den Teiler. Das ergibt die gesuchte Zahl. Ist aber ein Ergebnis zu groß, das andere aber zu klein, dann nimm in beiden Schritten die Summe (nicht die Differenz). [Sind beide zu klein, dann wie oben den Unterschied). [Man beachte, daß nicht mit negativen Zahlen gerechnet wird, Unterschiede und Differenzen sind immer positiv als Betrag zu verstehen. (Der Unterschied mit der Summe fängt das spätere -(-)=+ auf.)]

Etwas klarer in der späten Ausgabe, Leipzig 1550, 186r ff.:

Regula falsi.

Ist eine Regel das man durch zwu falsche zaln/ die man der auffgab nach examinirt / die rechte zal haben mag / Thu im also / Nim für dich eine zal der auffgab gemes vorsuch die / komet zuuiel / bezeichen mit dem zeichen -|- das ist plus / sagt aber die zal der warheit zu wenig beschreib das selbig mit dem zeichen — das ist minus / Nach dem nim ein andere zal fur dich die examinir auch / Als dan setz beide falsche zaln mit jren lügen / sagen die zaln der warheit beide zuvil / oder beide zu wenig / Nim ein lugen von der andern das da bleibt ist dein teiler / darnach multiplicir creutzweis ein falsch zal mit der andern falschen zal lügen / nim auch von einander das da bleibt teil in vorgemachten teiler so hastu die rechte unnd warhafftige zal / sagt aber eine falsche zal der warheit zuuil und die ander zu wenig / Addir beide lügen behalt fur deinen teiler / Darnach multiplicier Creutzweis / Addir auch und teile ab so hastu berichtung der frag.
  Wil aber alhie nach einander setzen die exempla so ich zuuor in meinem büchlein angezeigt und die nach notturfft erklern/hie mit ein jder die Coss dester leichter begreiffen mag / welche ich ab Gott wil mit der zeit auch klerlich am tag geben wil.

Quelle: Digitalisat der Ausgabe Leipzig 1550 (Staatsbibliothek Bamberg, Signatur VD16 R 2415, Nutzungsrechte: Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0)

Regula falsi.
 
Ist eine Regel, wie man durch zwei falsche [willkürlich angenommene] Zahlen, die man der Aufgabe nach durchrechnet/überprüft, die richtige Zahl herausfinden kann. Mache es so: Denk dir eine Zahl, probiere die in der Aufgabe; ist das Ergbnis zu groß, bezeichne mit dem Zeichen +, das ist plus, ergibt es aber weniger als die Wahrheit [das vorgegebene Ergebnis], dann beschreib es mit dem Zeichen —, das ist minus. Danach nimm eine andere Zahl und examiniere diese auch. Alsdann notiere beide falsche Zahlen mit ihren jeweiligen Lügen [Unterschieden zum richtigen Ergebnis]. Sind beide zu groß oder beide zu klein, dann zieh eine Lüge von der anderen ab [nimm also die Differenz], und was bleibt [also die Differenz] ist dein Teiler. Danach multipliziere über Kreuz eine falsche Zahl mit der jeweils anderen Lüge, zieh vom einen Produkt das andere ab, was da bleibt, dividiere durch den Teiler, heraus kommt die wahrhaftig richtige [gesuchte] Zahl. Ergibt aber eine Zahl zuviel, die andere zu wenig, dann addiere beide Lügen für den Teiler, multipliziere wieder kreuzweise, addiere die Produkte und teile, so hast du die richtige Antwort auf die Frage.

 Ich will aber hier die Beispiele, die ich zuvor in meinem Büchlein [in der o.g. alten Ausgabe] gebracht habe, wiedergeben und im Hinblick darauf erklären, daß jeder die Coß desto leichter verstehen mag, die ich, so Gott will, mit der Zeit auch noch zur Erhellung an den Tag bringen [herausgeben] will.

Bei der in der Anmerkung zu den dann folgenden zahlreichen Beispielen in der späteren Ausgabe erwähnten Coss bzw. Coß, zu deren Drucklegung und Veröffentlichung es nicht mehr gekommen ist, handelt es sich um ein Lehrbuch der Algebra. Mit Coß, von ital. cosa: Ding, Sache und lat. causa: Gegenstand, Fall, Grund, Ursache bezeichnete man im Mittelalter eine gesuchte unbekannte (numerische) Größe. In Ries' Rechenbüchern werden keine Gleichungen, auch der heute einfachsten Art (wie hier!), also lineare, mit Umformungen, d.h. algebraisch gelöst, sondern algorithmisch mit solchen reichlich komplizierten Vorschriften für Rechenabläufe wie eben der Regula falsi, einer im übrigens aber exakten Lösungsmethode für Gleichungen oder besser: Berechnungen, in denen die Unbekannte lediglich linear auftritt. Da negative Zahlen zu dieser Zeit nicht bekannt sind (oder man mit ihnen nicht umging), werden Fallunterscheidungen erforderlich wie eben hier, daß man einmal Differenzen bildet, ein anderes mal aber die Summe. Wir können heute allgemein von Differenz sprechen, denn wir können 2-(-3) berechnen und müssen nicht den Umweg über 2+|-3| nehmen.

Ries hatte das über 500 Seiten umfassende Manuskript seiner Coß übrigens schon 1524 fertiggestellt. Es durfte von Schülern und Interessierten eingesehen und benutzt werden. Vom sehr teuren Druck sah Ries wohl auch deswegen ab, weil entsprechende Werke anderer Autoren erschienen waren, so etwa die Coß von Christoph Rudolff (1500 - vor 1543): Straßburg 1515, neu herausgegeben 1553 (→Digitalisat, UB Bielefeld) von Michael Stifel (um 1487 - 1567).

Bevor hier die (in Auswahl originalen) Beispiele mit zeitgenössischen Rechenaufgaben aus dem Rechenbuch studiert und eigene Beispiele durchexaminiert werden können, will ich versuchen, das Verfahren für heutige Leser verständlicher zu beschreiben.

Es geht bei der Regula falsi darum, daß in einer gegebenen Rechnung zwar das Ergbnis bekannt ist, aber nicht die Ausgangszahl. Um die herauszufinden, rechnet man die Rechnung mit zwei willkürlich angenommenen Zahlen durch und betrachtet den Unterschied zum richtigen Ergebnis. Am Beispiel (das zweite von Ries): Ein Sohn kennt sein Alter nicht und fragt den Vater danach, welcher antwortet: nun, wärst du nochmal so alt, nochmal die Hälfte und noch ein Viertel dazu und dann noch ein Jahr älter, so wärst du 100. (Heißt also in heutiger Schreibweise x + x + ½·x + ¼·x + 1 = 100. Und nein, wir kommen keineswegs in Versuchung, die Gleichung zu 114x + 1 = 100 zusammenzufassen und über 114x = 99 nach x = 99·411 = 9·4 = 36 aufzulösen! sondern folgen der Rieseschen Regula.)
Wir denken uns als Sohn: Naja, vielleicht bin ich 40. Das wären dann nach Vaters Rechnung 40 + 40 + 20 + 10 + 1, also 111. Das ist 11 zu viel: plus. Dann, denn Lügen macht Spaß, vor allem beim Rechnen! Wwenn es sogar erlaubt und gewollt wird, ja dann kann man sich einfach noch älter als 40 denken (was ja eigentlich ein wenig blöd ist, wenn 40 schon zu alt ist; aber Ries nimmt genau diese zweite, sicher noch falschere Zahl, also folgen wir ihm und denken als Sohn: Vielleicht bin ich 48? Einsetzen und ausrechen: 48 + 48 + 24 + 12 + 1 = 133. Damit sind wir 33 im plus. Nun ziehen wir denen einen Fehler (11) vom anderen (33) ab, macht 22. Das merken wir uns. Später wird nämlich dadurch geteilt.
Nun wird über Kreuz multipliziert: beide falsche angenommenen Zahlen mit dem jeweils anderen Fehlbetrag, also 40 mal 33, ergibt 1320, und 48 mal 11, ergibt 528. Wir ziehen das kleinere Produkt vom größeren ab und bekommen die Differenz 1320-528 = 792. Diese teilen wir durch die oben berechnete und hoffentlich gemerkte 22 und erhalten unser wirkliches Alter: 36.
Hätten wir als zweite Zahl eine zu kleine angenommen, z.B. 28, dann wäre wir mit 28+28+14+7+1=78 um 22 im minus, müßten dann statt voneinander abzuziehen die beiden Fehlbeträge addieren, also 11+22=33 (merken!). Über Kreuz multipliziert, ergibt 40·22=880 und 28·11=308. Auch das wird addiert statt subtrahiert: 880+308=1188 und durch die gemerkte 33 geteilt. Wieder ergibt sich 36. Das ist fast mathematische Alchemie, nicht wahr? Unten zeige ich, warum das Verfahren für lineare Zusammenhänge funktioniert und wie es dann später auch zur (iterativen) Approximation von Lösungen nichtlinearer Gleichungen verwendet wurde.

Zunächst aber können die Beispiele aus dem Rechenbuch hier interaktiv studiert werden. Ich folge bei der interaktiven Darstellung des Rechenschemas der früheren Ausgabe mit den verbalen Bezeichnung plus und minus. In der späteren die Symbole —|— (für +) und —— (für -) und ohne Kreuz. Außerdem legt Ries dort, und zwar erst in den Beispielen nahe, die beiden Fehlbeträge zu kürzen (oder durch Erweitern ganzzahlig zu machen), was natürlich handlichere Zahlen zum Weiterrechnen liefert. Auch wird dann in einem zweiten Schritt, sofern möglich, der Teiler mit den Ausgangszahlen gekürzt, was ich in der interaktiven Darstellung allerdings weglasse. Man mag das anhand der Faksimiles studieren Das Vereinfachen durch Kürzen/Erweitern klappt allerdings nur bei geeigneter kluger Wahl der Ausgangszahlen, die Ries in der späten Aufgabe dafür oft entsprechend modifiziert. Man kann diese Kürz-Option hier dazu- oder abwählen.
Die Kreuze sind in der Vorlage des leider nur schwarweißen Faksimiledrucks der Ausgabe 1522 (siehe Quellenangabe oben) wohl handschriftlich nachgetragen; ich habe das hier zur Verdeutlichung übernommen.
Außerdem verwende ich gegebenenfalls die Riesesche Bruchschreibweise mit den gemischten Brüchen, also z.B. weder 3,75, noch 15/4, sondern 3¾.
Für die originalen Beispiele wird unterhalb jeweils das Faksimile angezeigt.

 

Wähle ein originales Beispiel aus dem 2. Rechenbuch von Adam Ries: oder gib selber eine Aufgabe ein.

Das fache der gesuchten Zahl plus soll ergeben.
Oder alternativ als Gleichung (in x): = (rechts ohne x)
Versuche es mit und .     mit Kürzen

 
 
 

 


© Arndt Brünner, 7. 1. 2023
Hinweis: Diese unfertige Version diente nur zur Sichtung. Rechte an den Faksimiles: siehe Quellenangabe, für die Scans aus der Ausgabe 1522 ist die Genehmigung der Nutzung bei den Herausgebern angefragt. Ich bekam keine Antwort und gehe nun, bis mir Unterlassungsansprüche vermeldet werden, davon aus, daß die Nutzung in Ordnung ist. Die Schöpfungshöhe der (eher schlechten) Faksimilereproduktion ist eher gering; und einem wirtschaftlichen Interesse der Uni, das nur in sehr geringem Ausmaß vorstellbar ist, läuft diese Verwendung hier nach meinem Verständnis nicht zuwider (mit der ich selbst keinerlei wirtschaftliches Interesse verfolge); eher kommt sie ja dem Verbreitungsanliegen und dem wissenschaftlichen Gedanken entgegen. Aber bitte melden, wenn ich damit falsch liege.
Die Ausgabe 1550 steht unter der Creative-Common-Lizenz.
Ich bin jetzt ein wenig raus aus dem Thema und habe auch wohl für längere Zeit wenig Kraft und Zeit, an dieser Seite weiterzuarbeiten (es sollte auch noch die interaktive Darstellung der regula falsi zum approximativen Lösen beliebiger Gleichungen folgen) oder mich überhaupt mit Ries und etwa seiner Coß zu beschäftigen. — Gleichwohl ist die Seite doch auch so schon recht informativ und brauchbar, und daher entschied ich mir zur Veröffentlichung, bevor sie im Dunkel meiner Festplatte verstaubt.
4. 3. 2023